Wie äußert sich Dissoziation im Familienleben und in der Paartherapie mit Eltern
"Es gibt diese Momente, in denen mich das Gefühl überkommt, diesen Alltagsspagat nicht mehr zu schaffen. Dann beam ich mich weg und krieg' nichts mehr mit."
"Unser Baby hält mich nachts wach. Seitdem unser Sohn da ist, lebe ich wie in Watte gepackt."
"Wenn unsere Kinder streiten und keine Lösung finden, fangen sie an zu schreien. Das Schreien geht mir bis ins Mark. Und plötzlich höre ich gar nichts mehr. Meine Partnerin sagt, in den schwierigsten Momenten würde ich sie hängenlassen, weil sie den Kindern alleine zur Seite stehen muss."
"Uns ist das dann mal aufgefallen: Wenn wir Eltern vor den Kindern streiten, fangen sie an mit ihren imaginären Tierfiguren zu sprechen."
„Beim Sex habe ich das Gefühl, nicht da zu sein.“
„Wenn mein Partner von der Arbeit nach Hause kommt und er die Autotüre zuwirft, kommt die Panik. Es ist, als sitze ich "im Keller" und kann nichts mehr tun - auch wenn meine Vorfreude gerade noch groß war.“
"Und in all dem Familienchaos ist es dann manchmal für einen Moment wie damals, als wir uns kennengelernt haben - wenn wir dieses Lied hören: dann schweben wir gemeinsam davon."
"Wir funktionieren wunderbar als Team... Ja, 'fuktionieren' trifft es ganz gut. Nur, wenn jemand fragt, wie es uns geht, dann wissen wir keine Antwort darauf."
Dissoziation - unser Notfallprogramm bei Überforderung und Ausweglosigkeit
Viele Elternpaare, die in meine (Online-) Praxis für Paarberatung und Paartherapie kommen, beschreiben dissoziative Phänome, die sie im Alltag erleben.
Dissoziation ist ein psychophysiologischer Prozess, den wir alle nutzen.
Die Beispiele zu Textbeginn zeigen, dass Dissoziation in ihrer Gestalt vielfältig ist.
Sie hilft uns dabei, durchs (Familien-) Leben zu kommen - oder hat es mal getan, in Phasen, in denen es schwierig war.
Dissoziation dient unserem Schutz und ist Teil eines "Notfallprogramms", das während und nach Überforderungen auftreten kann - auch bei Stress in der Partnerschaft und im Alltag als Familie. Unsere Fähigkeit zur Dissoziation dient dazu, überfordernden Situationen oder Konflikte "erträglich" zu machen.
Wir dissoziieren, wenn wir eine Situation mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht bewältigen können - wenn Angriff und Flucht nicht (mehr) möglich sind.
Wenn wir an einer für uns unerträglichen Situation gerade nichts ändern können, dann ist "innerlich Aussteigen" unsere Chance. Wir verarbeiten dann Körperwahrnehmungen, Gefühle, Gedanken nicht zusammenhängend, sondern "abgetrennt" voneinander. Wir machen uns unsichtbar und nehmen nicht mehr wahr, was um uns herum los ist.
Einige der oben aufgeführten Beispiele beschreiben Dissoziation in ihrer alltäglichen bzw. leichten und zeitlich begrenzten Form.
Sie kann sich beispielsweise zeigen in:
- Übermüdungs- und Erschöpfungszuständen
- Alltagsamnesien (sich an Dinge punktuell nicht mehr erinnern können)
- Fantasie, imaginäre Freund*innen
- Depersonalisation (sich selbst fremd sein: zum Beispiel sich wie in Watte gepackt fühlen, sich klein wie ein Zwerg fühlen, neben sich stehen, wie fremdgesteuert fühlen)
- Derealisation (die Umwelt als unwirklich wahrnehmen)
Wenn das Notfallprogramm zum Standardprogramm wird
Für manche Kinder und Erwachsene ist Dissoziation ein Dauerzustand bzw. sie tritt in intensiver Ausprägung auf und hindert daran, ein erfülltes, lebendiges Leben zu führen.
Dies ist eher für diejenigen von uns der Fall, die Verletzungen durch andere Menschen erlebt haben - durch nahestehende Menschen, von denen ein Mensch Schutz und Zuwendung erwartet hat und stattdessen Übergriffe oder Vernachlässigung erfahren hat, die die Verarbeitungskapazität des Gehirns gesprengt haben. Erlebnisse können so belastend sein, dass sie von unserem Alltagsbewusstsein nicht integriert werden können.
Von Psychotherapeut*innen werden in diesem Zusammenhang auch immer wieder die dunklen Kapitel der Menschheitsgeschichte thematisiert, auch der deutschen Geschichte seit den 30ern, der 2. Weltkrieg, die Verbreitung und Durchsetzung der damaligen Erziehungsideologien und ihre Auswirkungen auf die heutige Großeltern und Eltern- Generationen. Auf diese Themen können Andere besser eingehen, ich möchte hier nicht vertiefen, aber zumindest diese meines Erachtens wichtigen Zusammenhänge benennen und beispielsweise verweisen auf Texte von Luise Reddemann.
Erschöpfte Eltern und die Fähigkeit zur Dissoziation von Kindern
Auch unsere Kinder dissoziieren in Momenten der Überforderung.
Wenn ich mit Kindern und Jugendlichen über unsere Fähigkeit zur Dissoziation spreche, formuliere ich gerne diesen Satz:
"Es ist ein kreativer und beeindruckender Trick unseres Körpers!"
Es ist ein "Trick", der mich in besonderer Weise immer wieder berührt. Denn bei all der Magie, die in der Fähigkeit steckt, sich innerlich "wegzaubern" zu können, steckt hinter diesem "Trick" eben auch die Tatsache, dass Dissoziation stets im Zusammenhang mit erlebter Ausweglosigkeit steht.
Begleitende Gefühle sind häufig Hilflosigkeit und/ oder Scham.
Insbesondere Kinder, die durch ihre Abhängigkeit von ihren Bezugspersonen besonders verletzlich sind, sollten würdevoll in ihrem Aufwachsen begleitet und vor andauernder Überforderung geschützt werden.
Wenn für Kinder Dissoziation ein Dauerzustand ist bzw. in intensiver Ausprägung Auftritt und sie daran hindert, dass sie sich mit kindlicher Begeisterung und Leichtigkeit entwickeln können, braucht es manchmal professionelle Hilfe.
Ähnliches gilt für Erwachsene (erste Anlaufstellen können die Beratungsstellen für Eltern, Kinder und Jugendliche der bke sein sowie die niedergelassenen Psychotherapeut*innen).
Wenn Erwachsene "nicht da sind", haben Kinder ein Problem
Wenn wir Erwachsenen dissoziieren, betrifft das auch unsere Kinder - je jünger sie sind, umso mehr. Denn Kinder brauchen Eltern, die präsent sind. Natürlich sind wir als Eltern manchmal oder häufig müde und erschöpft.
Es ist normal, dass es Phasen gibt, in denen wir uns überwältigt und hilflos fühlen - zum Beispiel auch dadurch, dass andere Menschen unsere sensibelsten Stellen berühren. Wir können nicht immer alle Eventualitäten bedenken oder unmittelbar Vorkehrungen treffen - manchmal sind wir in unserem Leben auch mal "nicht dabei".
Wenn wir aber dauerhaft oder über längere Zeitfenster hinweg nicht für unsere Kinder ansprechbar sind, ist es unsere Aufgabe für Entlastung zu sorgen und dafür, dass die Kinder vertraute Menschen um sich herumhaben, die präsent sind.
Mit Kindern über psychophysiologische Kompetenzen sprechen
Es ist mir mit diesem Text ein Anliegen, herauszuarbeiten, dass Kinder dissoziative Phänome so oder so kennenlernen - an sich selbst und bei ihren Bezugspersonen.
Als wichtige Personen im Leben eines Kindes, können wir dieses "Kennenlernen" mitgestalten.
Wir dürfen mit Kindern über Herausforderungen sprechen - auch über die menschliche Fähigkeit zur Dissoziation. Wir dürfen mit ihnen über Gefühle der Hilflosigkeit sprechen und darüber, dass es im Leben manchmal so ist, dass wir keinen Plan (mehr) haben und nicht weiterwissen. Wir dürfen außerdem mit Kindern darüber sprechen, dass auch Erwachsene manchmal so überfordert sind, dass sie sich verstecken wollen und dass gleichzeitig die Verantwortung bei den Erwachsenen liegt, das Stresslevel auf einem angemessenen Niveau zu halten.
Wir können Erklärungen anbieten, um Kinder dabei zu unterstützen, eigene Gefühle und Verhaltensweisen einordnen zu lernen - und die Verhaltensweise der Eltern. Im besten Fall sprechen wir mit Kindern in einer klaren und feinfühligen Weise, die die Kinder nicht überfordert. Ich schreibe gerne darüber, wie schwierige Themen mit Kindern besprochen werden könnten. Manchmal können (psychologische und therapeutische) Kinderbücher eine Hilfe sein - oder kurze Texte zum Vorlesen. Und so habe ich auch einen kurzen "Familien-Text" zu unserer Fähigkeit zur Dissoziation entwickelt.
Für Kinder und Jugendliche:
"Es gibt ein kleines Versteck in dir drin. Wie eine Höhle oder ein Geheimraum - mit Vorhang, den du zuziehen kannst.
Dort kannst du hingehen, wenn du nicht weiterweißt, weil eine Herausforderung viel zu groß ist. Wenn du dich hilflos und ohnmächtig fühlst. Wenn toben und laut sein nichts bringt. Und davonlaufen nicht geht.
So ein Versteck haben alle Menschen. Auch die Erwachsenen.
Es ist wunderbar, dass es dieses kleine Versteck für uns gibt. Denn so ist das im Leben: manchmal ist's uns zu viel.
Und es ist gut, wenn wir nach einer Weile wieder aus dem Versteck herauskommen können.
Denn dort ist es dunkel und einsam.
Für Kinder ist es wichtig, dass die Erwachsenen ihnen dabei helfen, aus dem Versteck wieder herauszukommen.
Beispielsweise, indem sie eine warme Decke holen - oder einen Tee. Und vor dem Vorhang warten und sagen:
"Du kannst wieder rauskommen. Ich helfe dir, die knifflige Situation zu meistern."
Und vielleicht auch: "Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe!"
Nutze in eurem Familienalltag gerne auch die anderen Geschichten meiner Reihe "Kindern unsere Psychologie erklären":
Teil 1 - "Warum weinen wir? - Eine Propellermaschine für unsere Gefühle" (hier findest du die Geschichte)
Teil 2 - "Warum trennen sich Eltern? - Wie Sonne und Mond wieder glücklich wurden" (bisher nur veröffentlich als Beitrag auf Instagram)
Teil 3 - „Wunderwolken für wichtige Aufgaben - Eine Geschichte, die Kindern erklärt, warum Eltern streiten“ (hier geht es zur Geschichte
Teil 4 - "Warum gehen Mama und Papa zur Psychotherapie? - Die Geschichte vom Seelenauto" (veröffentlicht auf dieser Seite)
Teil 5: "Runa und die Zauberstiefel - Was macht der Zeigarnik-Effekt in Familien?" (hier geht es zur Geschichte)
Dies ist das Blog des Halthafens.
Meine Texte ergeben sich aus der Beschäftigung mit psychologischer und systemischer Literatur und Forschung, meinen Erfahrungen in der Paartherapie mit Eltern in meiner Praxis in Darmstadt und der Paarberatung und Paartherapie online sowie aus meinem Leben als Mama von zwei Kindern. Aus meiner Arbeit heraus entwickele ich außerdem psychologische Kinderbücher. Wenn du über neue Texte informiert werden magst, folge mir gerne auf Instagram oder trage dich gern für meinen Newsletter ein.